Denkstaettenkuratorium NS Dokumentation Oberschwaben
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Campus Weiße Rose
15.11.2022

Mitteilung Nr. 03-2022 des Denkstättensekretariats

Netzwerktagung am 21.7.2022 – 22.7.2022 – veranstaltet vom Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin des Zentrums für Psychiatrie ( ZfP ) Südwürttemberg; vom Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Oberschwaben in Weingarten; Akademie der Diözese Rottenburg- Stuttgart im Tagungshaus der Akademie in Weingarten

Sehr geehrte Mitglieder, sehr geehrte Freundinnen und Freunde unseres Denkstättenkuratoriums,

heute möchten wir Sie durch einen dritten Newsletter im Jahr 2022  über eine Netzwerktagung mit interessanten Beiträgen informieren. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Am 21./ 22. Juli 2022 fand im Tagungshaus der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Weingarten die Netzwerktagung „Historisches Wissen und gesellschaftlicher Bildungsauftrag – am Beispiel des Nationalsozialismus“ statt. Diese Tagung wurde schon zum dritten Mal nach 2018 und 2020 vom Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Ravensburg-Weißenau, dem Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Oberschwaben und der Akademie der Diözese durchgeführt und erwies sich einmal mehr als wertvolles Forum zum anregenden Austausch neuer Rechercheergebnisse und Methoden der Vermittlung der NS-Erinnerungskultur sowie zur Stärkung der Kooperation der Gedenkstätten untereinander und mit Lokalhistorikern, Archiven, Museen , Dokumentationszentren und Forschungseinrichtungen, Bildungseinrichtungen wie Schulen und Pädagogischen Hochschulen. Die Veranstaltung war mit insgesamt ca. 40 Vertretern solcher Institutionen gut besucht.


Die Tagung gab in zehn Vorträgen mit Diskussion einen Überblick über neue Entwicklungen in der NS-Erinnerungskultur in der Region. Sie begann am 21. Juli mit einer Geschichtswanderung auf den Spuren des Nationalsozialismus zu Orten, die an die lokale NS-Geschichte Weingartens erinnern, wo vor ziemlich genau 100 Jahren – am 16.9.1922 – die erste NSDAP-Ortsgruppe Oberschwabens gegründet wurde.
 In seinen einführenden Worten ging Johannes Kuber ( Akademie ) auf die Kritik an der „Dominanz der Holocaust-Erinnerungskultur“ gegenüber der Erinnerungskultur hinsichtlich des Kolonialismus ein und Thomas Müller ( Forschungsbereich für Geschichte der Medizin am ZfP Südwürttemberg ) begründete die besondere Bedeutung der NS-Erinnerungskultur heute mit dem Rechtsruck in einigen europäischen Ländern, vor allem mit dem starken Neofaschismus in Frankreich, Italien und Polen, wo die Politik versuche, Einfluss auf die historische Forschung zu nehmen. Uwe Hertrampf (Beauftragter des Denkstättenkuratoriums) wies in seinem Beitrag auf die Herausforderung auch an die NS-Erinnerungskultur hin, die darin bestehe, wie mit historischen Denkmälern mit aus heutiger Sicht fragwürdigen Inhalten umzugehen sei., z.B. mit heldenverherrlichenden Kriegerdenkmäler oder speziell in  Weingarten mit Gedenktafeln, die eine positive Sicht des Kampfes und der Opferbereitschaft von Soldaten im 1. und 2. Weltkrieg vermitteln - wie z.B. die Torbogentafel und das Relief bei der Basilika sowie die Rommeltafel. Diese seien der Geschichte Weingartens als Garnisonsstadt geschuldet und würden den lebendigen Geist der Frontsoldaten des 1. Weltkriegs vermitteln, der laut NSDAP-Kreisleiter Rudorf Grund dafür sei, dass sich die erste NSDAP-Ortsgruppe Oberschwabens – bereits im Jahr 1922 - in Weingarten gebildet habe.


Viele der folgenden Tagungsbeiträge befassten sich mit neuen Ideen zur Vermittlung der lokalen NS-Geschichte. In Bezug auf die Darstellung der „Euthanasie“-Morde betraf das die Einbeziehung von behinderten Menschen als Schauspieler oder als Publikum. So berichtete Maximilian Tremmel über ein von Bund und EU gefördertes inklusives Straßentheaterprojekt ( „Hierbleiben…Spuren nach Grafeneck“ ) des Reutlinger Theaters in der Tonne über die „Euthanasie“-Morde im Rahmen der Aktion T 4, an dem auch behinderte Schauspieler mitwirkten. Jede der 25 Aufführungen ( Sept. 2020 bis Oktober 2021 ) an öffentlichen Plätzen vor einem teilweise auch spontan angesprochenen Publikum hatte einen biografischen Bezug zum Auftrittsort, da in ihr zwei bis drei vorher recherchierte Lebensgeschichten von aus dem jeweiligen Ort stammenden Opfern spielerisch – assoziativ vorgestellt wurden. Für die Fortsetzung des Projekts, von dem es einen Trailer im Internet gibt, sei eine neue Förderung nötig.


Henner Lütteke (München) berichtete in seinem Vortrag über das 2005 eröffnete Psychiatrie-Museum im kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost – eine Nachfolgeinstitution der 1905 gegründeten Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. 4000 Patient*innen dieser Anstalt fielen in der NS-Zeit der zentralen und dezentralen „Euthanasie“ zum Opfer. Am Ort, der die Geschichte widerspiegelt, wird somit – auch für die heutigen Patient*innen – neben der Darstellung der Therapieformen der letzten 100 Jahre die lokale Geschichte der „Euthanasie“ aufgearbeitet und dargestellt, z.B. durch Hinweise auf Stationen der NS-Verbrechen wie die Hungerhäuser, in denen psychisch Kranke nach dem „Hungerkosterlass“ vom November 1942 durch Mangelernährung ermordet wurden.


Lütteke berichtete auch von klinikinternen Initiativen, die Erinnerungskultur zu pflegen und auszuweiten – wie die Einrichtung eines Gedenktages zur Erinnerung an den ersten Transport nach Grafeneck.
Zum Thema „Euthanasie“ referierte auch im letzten Beitrag der Tagung Bernd Zander aus Bad Waldsee über seine durch die Lektüre von Gemeinderatsprotokollen ausgelöste Recherchen zu Opfern der „Euthanasie“ und der Zwangssterilisation in Bad Waldsee. Sein Ziel dabei besteht darin, die Opfer zu würdigen und ihnen ein Gesicht zu geben. Bei der Aufarbeitung dürfte nicht hinsichtlich der Krankheitsdiagnosen die Tätersprache verwendet werden, durch die die Opfer im Sinne der Nazi-Ideologie diskriminiert würden. Die Veröffentlichung der Biographien sei wichtig, um die Nazi-Geschichte nicht fortzuschreiben und Kontinuitäten bis heute zu unterbrechen, was zuweilen auf Widerstand stoße – wie die Argumentation eines Gemeinderats zum Widerstand gegen eine Verlängerung der „Richthofenstraße“ in ein neues Baugebiet gezeigt habe . Man müsse „Wunden heilen mit gebrochenem Herzen“. Er wolle die Rechercheergebnisse, die er als Einzelperson gesammelt habe, nun dem Kulturbeirat der Stadt Bad Waldsee übergeben und hoffe, dass sich ein von diesem Gremium einzuberufender Arbeitskreis ihrer annehme.

Über neue Wege der Vermittlung mit Hilfe der Digitalisierung referierte Nicola Wenige von der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg Ulm. Das dortige sogenannte „frühe Konzentrationslager“ diente in den Jahren 1933 – 1935 dazu, den Widerstandswillen von Regimegegnern zu brechen, und ist heute das einzige noch erhaltene dieser Art. Auf Grund der eingeschränkten räumlichen Nutzung – das KZ wurde auf militärischem Gelände, einem 1850 errichteten Fort der Bundesfestung Ulm, eingerichtet, das bis heute noch teilweise militärisch genutzt wird - und auf Grund seiner Unübersichtlichkeit ist die räumliche Nutzung des gesamten Geländes des früheren KZs für die Gedenkstättenarbeit nicht möglich. So kam die Idee auf, die nicht zugänglichen Orte des früheren Konzentrationslagers durch eine digitale Führung Schulklassen und anderen Besuchern einsehbar zu machen, so dass jeder Besucher auf der Basis einer digitalen Internetdatenbank - individuell aktiv das gesamte frühere Lager erforschen kann. Solche Ansätze werden durch das Bundesprogramm „Dive in“ gefördert.  Außerdem wird für den individuellen Rundgang von Besuchern ein Medienguide und zusätzlich ein interaktives Diskussionsforum geschaffen.

Über einen anderen neuen Wege der Vermittlung berichtete Sabine Mücke vom Museum Humpisquartier Ravensburg in ihrem Referat über die bis Januar 2022 im Humpisquartier gezeigte Ausstellung „Die Verfolgung der Ravensburger Sinti“, die u.a. auch die Ausgrenzung der Ravensburger Sinti aus der Stadtgesellschaft im Lager Ummenwinkel bereits vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten thematisiert. Zur Vermittlung der Ausstellung wurden auch junge Sinti ausgebildet, die als Peer-Guides in Tandems durch die Ausstellung führten. Diese Methode ist besonders gut geeignet, um durch die Gleichaltrigkeit der „Peer-Guides“ junge Leute anzusprechen und für das Thema NS-Geschichte zu interessieren.

Das hatte sich – wie Uwe Hertrampf für das „Netzwerk Antisemitismus im Schussental“ berichtete – schon bei der Organisation der Anne-Frank-Ausstellung im Februar 2019 im Foyer von Schwäbisch Media in Ravensburg gezeigt, als 39 Jugendliche aus Schulen der Umgebung sich zu Peer-Guides ausbilden ließen und in drei Wochen insgesamt 65 Führungen – oft für gleichaltrige Schulkameraden – durchführten.  
In diesem Zusammenhang berichtete Hertrampf über die aus der gemeinsamen Organisation der Anne-Frank-Ausstellung im Februar 2019 hervorgegangene Bildung des „Netzwerks Antisemitismus im Schussental“. In Fortsetzung ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit bei der Durchführung dieser Ausstellung und beim Projekt „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mit knapp 20 Veranstaltungen im Herbst 2021 haben sich mehrere lokale Organisationen beispielhaft zu einem dauerhaften „Netzwerk gegen Antisemitismus im Schussental“ zusammengeschlossen. Ziel dieses Zusammenschlusses ist es, dem Aufkommen des Antisemitismus entgegenzutreten. Mitglieder des Netzwerks „Antisemitismus“, dem auch das DSK und das Studentenwerk „Weiße Rose“ in Weingarten angehören, sind die lokalen Partnerschaften von „Demokratie leben“ in Ravensburg und Weingarten, die Gesellschaft für christlich-jüdische Begegnung, die Volkshochschulen Ravensburg und Weingarten, das Museum Humpisquartier und der Kreisjugendring.

Mit der Geschichte von jüdischen Zwangsaltenheimen, die als Sammeleinrichtungen für ältere Menschen jüdischen Glaubens vor der Deportation in die Vernichtungslager dienten,   schnitten im folgenden Michael Niemetz, Thomas Müller und Bernd Reichelt ein relativ neues Thema der NS-Erinnerungskultur an, das bisher nicht dargestellt wurde. Niemetz, Leiter des Museums für die Geschichte von Christen und Juden in Laupheim, sprach über die aktuelle Wanderausstellung zur Geschichte des jüdischen Zwangsaltenheims in Schloss Dellmensingen, in der versucht wird, die Geschichte aller 128 Bewohner darzustellen, von denen nur vier Menschen den Holocaust überlebten. Müller und Reichelt erarbeiteten für eine Erweiterung der Ausstellung die Geschichte der jüdischen Patient*innen in der Heilanstalt Zwiefalten und dem Zwangsaltenheim in Tigerfeld bei Zwiefalten, aus dem nur zwei von 47 Bewohner*innen überlebten.


Einen neuen Zugang zur Erinnerungskultur, speziell dem Gedenken an die Widerständlerin Sophie Scholl, nämlich den über die Musik, zeigte anschließend die Präsentation der anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl im letzten Jahr von Studenten der Fachschaft Musik und Geschichte der PH Weingarten erstellte Klang-Bild-Text-Collage über das Leben von Sophie Scholl. Sie wurde vom Musikdozenten Andreas Hoeftmann und dem Studenten Hannes Ibele vorgestellt. In dieser Collage werfen die Studierenden aus musikwissenschaftlicher Sicht einen Blick auf die NS-Zeit.  Zitate von Sophie Scholl aus ihren Briefen und ihrem Tagebuch und zeitgenössisches Bildmaterial werden chronologisch in 5 Sätzen – nach Entwicklungsphasen von Sophie Scholl geordnet - mit Musikstücken unterlegt– mit ihrer Lieblingsmusik, mit NS-Propagandamusik, mit Friedens- und Versöhnungsmusik, mit Musik der Unterdrückung und Musik von Künstlern, die durch die Nationalsozialisten zu Tode kamen. So öffnet die Musik das Herz des Hörers für die Aussagen der jungen widerständigen Frau.


Die Klangcollage wird von ihren Autoren gerne anlassbezogen präsentiert. Sie kann jederzeit online angesehen und angehört werden unter www.studentenwerk-weisserose.de/klang-collage/

Wie bei allen Tagungen waren neben den anregenden Vorträgen aber vor allem auch die vielen informellen Gespräche von Menschen, die in der Erinnerungskultur engagiert sind, von großer Bedeutung. Gerade diese persönlichen Gespräche über jeweilige Aktivitäten vor Ort geben viele Anregungen für eigene Aktivitäten, schaffen unterstützende persönliche Kontakte und stärken durch das Gemeinschaftsgefühl die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des Engagements für die Erinnerungskultur.

Einen ausführlichen Tagungsbericht finden Sie unter dem Link: Historisches Wissen und gesellschaftlicher Bildungsauftrag am Beispiel des Nationalsozialismus in Oberschwaben | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften | Geschichte im Netz | History in the web (hsozkult.de)

Wir hoffen, dass wir Ihnen in diesen Mitteilungen einige interessante Informationen und motivierende Anregungen für die eigene Arbeit geben konnten, und freuen uns immer über Rückmeldungen, Informationen, Ideen und Anregungen von Ihrer Seite.

 

In diesem Sinne grüßen Sie alle ganz herzlich

Ihre


Uwe Hertrampf                    Peter Ederer                                      Gertrud Graf
(für das Denkstätten-        (Vorsitzender Studentenwerk     (Vertreterin des DSK
sekretariat)                           Weiße Rose e.V.)                              bei der LAGG)

 

Anlagen:

- Tagungsprogramm

- Bericht der Schwäbischen Zeitung, Ausgabe Ravensburg vom 01.10.2022

 

 

DENKStättenkuratorium
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